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Juli 2011
02.07.2011 Cybercrime
     
zurück zum Verweis zur nächsten Überschrift Forschungsforum Öffentliche Sicherheit. Cyberkriminalität

 
Das Forschungsforum Öffentliche Sicherheit veröffentlicht seit Oktober 2010 gewichtige Forschungsarbeiten in der Schriftenreihe Sicherheit und zuletzt im Zusammenhang mit Seuchenprävention und dem Krisenmangement wegen gesundheitlicher Gefahren:

Christine Uhlenhaut, Pandemie, Endemie und lokaler Ausbruch. Prävention und Krisenreaktion bei biologischen Gefahren am Beispiel viraler Infektionskrankheiten, FÖS 08.06.2011

Lars Günther, Georg Ruhrmann, Jutta Milde, Pandemie: Wahrnehmung der gesundheitlichen Risiken durch die Bevölkerung und Konsequenzen für die Risiko- und Krisenkommunikation, FÖS 15.06.2011

Näher an den Kernthemen des Cyberfahnders waren die Arbeiten:

J. Birkmann, C. Bach, S. Guhl, M. Witting, T. Welle, M. Schmude, State of the Art der Forschung zur Verwundbarkeit Kritischer Infrastrukturen am Beispiel Strom/Stromausfall, FÖS 02.12.2010

Daniel F. Lorenz, Kritische Infrastrukturen aus Sicht der Bevölkerung, FÖS 14.10.2010

Eine nähere Betrachtung verdienen schließlich:

Dominik Brodowski, Felix C. Freiling, Cyberkriminalität. Computerstrafrecht und die digitale Schattenwirtschaft, FÖS 02.03.2011
 

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Cyberkriminalität sei daher im Folgenden verstanden als alle sozialethisch erheblich zu missbilligenden, sozialschädlichen Verhaltensweisen, die verfassungskonform unter Strafe gestellt sind oder unter Strafe gestellt werden könnten, und die entweder als Angriffsobjekt oder als Begehungsmittel informationstechnische Systeme einsetzen; Computerstrafrecht als Oberbegriff für alle Aspekte des Straf- und Strafprozessrechts, welche eine Cyberkriminalität betreffende Strafdrohung anordnen und durchzusetzen versuchen. <S. 31>
 

 
Die Autoren geben sich viel Mühe bei der Auseinandersetzung mit dem Schrifttum und der Findung von Definitionen, deren analytischer und praktischer Wert unklar bleibt.

Einen ersten Höhepunkt bilden die Ausführungen zum Verfassungsrecht und dem  Computerstrafprozessrecht <S. 46>, die die wesentlichen Grundrechte skizzieren und zusammenfassen, die für die Ermittlungen wegen der Cybercrime bedeutsam sind. Danach folgt die Betrachtung der klassischer Kriminalität und der Cyberkriminalität <S. 53>, die recht oberflächlich bleibt.

Schuld daran trägt die Quellenauswahl der Autoren, die sich auf juristische Beiträge und Autoren beschränken. Ihre Arbeit wird dadurch zu einer beachtlichen Materialsammlung ohne kriminalistische oder analytische Erkenntnisse. Die ausgewertete Literatur ist vielfach schon zehn Jahre alt. Das macht sie unter dem Gesichtspunkt der rechtlichen Problemlösung nicht unbrauchbar. Die jüngeren tatsächlichen Entwicklungen (1) bleiben dadurch ausgeblendet und können nicht als Maßstab und Kontrolle für die Bedeutung und den Aussagewert der Arbeiten herangezogen werden.

Diese Einschränkung zeigt sich besonders deutlich im Zusammenhang mit der Erörterung der kriminellen Akteure und der Schattenwirtschaft. Die organisierten Formen der Cybercrime werden völlig ausgeblendet <S. 63, 64> (2) und die Autoren befassen sich im wesentlichen mit dem Phishing, der Malware und den Botnetzen <S. 67 bis 69>. Die Carding-Boards, den regen Handel mit kriminellen Waren, Diensten und vor allem mit persönlichen Daten und der Beutesicherung nehmen die Autoren deshalb nicht mit der tatsächlichen Brisanz wahr <S. 76>.

Die anschließenden, strafrechtlich ausgerichteten Erwägungen <S. 86 bis 120> sind zeitlos, informativ und als Grundlagen empfehlenswert. Das an verschiedenen Stellen angesprochene Skimming (3) wird hauptsächlich wegen der Frage wahrgenommen, dass der BGH insoweit ein Ausspähen von Daten ablehnt, ohne dass die wirklichen Probleme im Zusammenhang mit dem Versuchsbeginn und den Handlungen im Vorbereitungsstadium angeschnitten werden.

Besonders gelungen ist das Kapitel über die strafprozessualen Eingriffsbefugnisse <S. 128>. Die Probleme mit den personalen Recherchen im Internet, also mit nicht offen ermittelnden Polizeibeamten und verdeckten Ermittlern, schneidet die Studie nur oberflächlich und verknappt unter der Überschrift "Online-Streife" <S. 152> an. Das wird dem Thema bei weitem nicht gerecht (4).

Den abschließenden Teil widmet die Studie der grenzüberschreitenden Strafverfolgung und den Handlungsvorschlägen, um die Srafverfolgung zu verbessern <S. 155, 187>.
 

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Die Studie ist wichtig und es ist gut, dass es sie gibt. Sie fasst die juristischen Fachmeinungen gut zusammen und ist dadurch hilfreich.

Die Lücken in dem Lob kennzeichnen zugleich die Schwächen der Studie. Sie stellt die Cyberkriminalität als eine quasi statische Erscheinungsform mit verschiedenen Strängen dar und versteht sie nicht als ein Bündel explosiver Prozesse, die spätestens seit 2010 zu erkennen sind. Es hätte ihr aus meiner Sicht gut angestanden, wenn sie eine Bestandsaufnahme, wie ich sie skizziert habe (1, 2), zugrunde gelegt hätte, um den Aussagewert der juristischen Texte zu befragen, die sie heranzieht.

Es schmerzt ein wenig, dass die Autoren zwar den Cyberfahnder wahrgenommen haben, sonst würde der Begriff "Koordinator" nicht in der Grafik auf S. 66 erscheinen, ansonsten aber mich und die journalistisch-analytischen Quellen, mit denen ich mich auseinander setze, völlig ignorieren. Das hat weniger mit meiner persönlichen Betroffenheit zu tun als mit meinem Bedauern über eine vertane Chance. Wenn sich die Studie stärker mit den Beobachtungen und Bewertungen der Sicherheitsunternehmen auseinander gesetzt hätte, dann hätte sie schärfer die Schattenwirtschaft und ihre organisierten Strukturen erkannt, um daran die juristischen Fragen und Aussagen zu messen. Nicht zuletzt die abschließenden Handlungsempfehlungen wären dadurch erheblich schärfer geworden.

Benzmüller, Paget und der Cyberfahnder passen aber nicht in die etablierten Geschäftsmodelle des Wissenschaftsbetriebes und der Politik. Dabei argumentieren wir auf ganz verschiedenen Abstraktionsebenen. Während Benzmüller als Beispiel für einen soliden Marktbeobachter gelten kann, wagt sich Paget viel weiter hervor und versucht, kriminologische Strukturen zu erkennen und zu beschreiben. Meine Aufgabe sehe ich darin, ihre Erkenntnisse zusammen zu fassen und auf dem Hintergrund meines rechtlichen Wissens und meiner praktischen Erfahrungen zu bewerten. Benzmüller hält sich an dieser Stelle geschickt zurück und Pagets Schlüsse müssen mit gehörigem Abstand betrachtet werden. Im Endeffekt ist auch Paget bemerkenswert zielgenau und präzise, wobei die Schwächen in seiner Argumentation auch meinen mangelnden Sprachkenntnissen geschuldet sein dürften.

Dass der Cyberfahnder vom Mainstream ignoriert wird, liegt daran, dass ich mich nicht wissenschaftskonform äußere. Es gibt von mir keine gedruckten juristischen Fachaufsätze oder -bücher, ich äußere mich sehr schnell zu neuen Erscheinungsformen und das wirkt unüberlegt und unausgereift. Außerdem agiere ich wie ein Sachbuchautor, also mehr populistisch als wissenschaftlich-versonnen. Ich zitiere fast ausschließlich Quellen aus dem Internet und scheine die juristische Fachliteratur in gedruckter Form zu ignorieren. Stimmt. Dieser Makel ist den Besonderheiten des Internets geschuldet und ich habe mir tatsächlich angewöhnt, nur Quellen zu verwenden, die jedenfalls zum Zeitpunkt meiner Äußerung im Internet verfügbar sind. Dank vieler starker Textsammlungen ist jedenfalls die Rechtsprechung inzwischen in großer Breite verfügbar, Fachbücher und -aufsätze hingegen nicht.

Was mich hingegen beruhigt ist die Tatsache, dass ich mit meinen rechtlichen Bewertungen fast immer richtig gelegen oder mich jedenfalls in die richtige Richtung bewegt habe. Das trifft leider auch auf meine kriminalistischen und analytischen Aussagen zu.

Im Ergebnis bin ich enttäuscht von der Studie von Brodowski und Freiling, weil sie das Thema Cybercrime nur unvollständig betrachtet und deshalb nur unvollständige oder jedenfalls fragwürdige Schlüsse liefert. In ihren starken Passagen bündelt sie hervorragend den aktuellen Meinungsstand, bleibt dann aber bei den Details oberflächlich und überholt. Ich empfehle sie dennoch gerne, weil eine bessere und frei verfügbare Alternative fehlt.
  

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(1) Kochheim, Eine kurze Geschichte der Cybercrime, 23.01.2011;
Kochheim, Cybercrime - Cyberwar, überarbeitete Fassung vom 02.07.2011;
Kochheim, Eskalationen, 19.02.2011.

(2) Die Grafik auf S. 66 zeigt zwar den "Koordinator", aber ohne dass er im Text wieder aufgenommen wird. Schon 2010 dürfte ich weiter gewesen sein:
Kochheim, Cybercrime, 24.06.2010; Underground Economy <S. 80 ff.>.

(3) Kochheim, Skimming, 22.04.2011

(4) Kochheim, verdeckte Ermittlungen im Internet, 12.05.2011
 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018