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Oktober 2011
09.10.2011 Leitungsbefugnis
     
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Die Staatsanwaltschaft leitet das Ermittlungsverfahren und trägt die Gesamtverantwortung für eine rechtsstaatliche, faire und ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens, auch soweit es durch die Polizei geführt wird (...). Aufgrund dieser umfassenden Verantwortung steht der Staatsanwaltschaft gegenüber ihren Ermittlungspersonen ein uneingeschränktes Weisungsrecht in Bezug auf ihre auf die Sachverhaltserforschung gerichtete strafverfolgende Tätigkeit zu, vgl. § 161 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 152 Abs. 1 GVG (...). Dabei kann sie konkrete Einzelweisungen zu Art und Durchführung einzelner Ermittlungshandlungen erteilen, Nr. 3 Abs. 2, Nr. 11 RiStBV, oder ihre Leitungsbefugnis im Rahmen der Aufklärung von Straftaten unabhängig vom Einzelfall durch allgemeine Weisungen im Voraus in Anspruch nehmen (...) (1)
 

 
Der Staatsanwaltschaft obliegt die Sachleitungsbefugnis im Ermittlungsverfahren. Daraus folgt nicht nur ein Weisungsrecht gegenüber den Ermittlungspersonen (Polizei), sondern auch eine Gesamtverantwortung für eine rechtsstaatliche, faire und ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens. (1) Diese Gesamtverantwortung verpflichtet die Staatsanwaltschaft vor allem dazu, alle Verfahrensfragen zu prüfen und das besonders in Bezug auf solche, die Verwertungsverbote auslösen können.

In der jüngeren Entscheidung des BGH (2) ging es um die ordnungsgemäße Belehrung eines Beschuldigten ( § 136 Abs. 1 StPO), die - vor allem wegen des Rechts, einen Verteidiger zu konsultieren - nur unvollständig in den Akten dokumentiert war. Der BGH lässt zwar die Heilung durch Vernehmung des Polizeibeamten zu, wenn es sich nur um einen Dokumentationsmangel gehandelt hat, bemängelt aber: Die Belastung des Verfahrens durch unsorgfältige Protokollierung wäre leicht bei Verwendung eines entsprechenden Formulars vermieden worden <Rn 17>.
 

 
Macht im Übrigen, wie hier, ein Angeklagter in der Hauptverhandlung keine Angaben, oder sagt er - erfahrungsgemäß ebenfalls nicht ungewöhnlich - dort anders aus als im Ermittlungsverfahren, können seine früheren Angaben sehr bedeutsam werden. Da hinsichtlich dieser Angaben hier keine ordnungsgemäße Belehrung aktenkundig war, stand das Verbot ihrer Verwertung dann im Raum, wenn die Belehrung und nicht nur deren Dokumentation unzulänglich war. Diese anhand der Akten nicht klärbare Frage hätte bereits vor der Hauptverhandlung überprüft werden können, auch schon von der Staatsanwaltschaft. Deren Gesamtverantwortung für ein rechtmäßiges Ermittlungsverfahren - auch soweit von der Polizei geführt - verlangt auch hinsichtlich etwaiger Beweisverwertungsverbote effektiv ausgeübte Leitungs- und Kontrollbefugnisse, damit gegebenenfalls gebotene Maßnahmen ergriffen werden können, wo nötig in Form allgemeiner Weisungen. Dies gilt in allen Verfahren, hat aber in Kapitalsachen (versuchter Totschlag) besonderes Gewicht (...). (2)
 
 

Die Belehrung des Beschuldigten zu Beginn seiner förmlichen Vernehmung ist eine der wenigen Förmlichkeiten, die von Gesetzes wegen zu einem Verwertungsverbot führen ( § 136a Abs. 3 StPO). Diese strengen Formalien sollen sicherstellen, dass der Beschuldigte vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht bewahrt wird, zu der er möglicherweise eben durch die Konfrontation mit dem amtlichen Auskunftsverlangen veranlasst werden könnte (3).

Wegen der Verwertungsverbote im übrigen verlangt der BGH einen verfassungsrechtlichen Grund (4). Danach führen einfache Verfahrensfehler zu keinen Verwertungsverboten, wohl aber solche, die unter willkürlicher Umgehung eines Richtervorbehaltes erfolgen oder andere bedeutsame Eingriffe gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens bedeuten. BVerfG: Insbesondere die willkürliche Annahme von Gefahr im Verzug oder das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Fehlers können danach ein Verwertungsverbot nach sich ziehen (5).
 

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Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht - auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte - ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde (...). Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege
in den Blick zu nehmen
(...). (6)

 
Die Ermittlungsbehörden müssen zunächst regelmäßig versuchen, eine Anordnung des zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie selbst eine Blutentnahme anordnen. Nur bei Gefährdung des Untersuchungserfolgs durch die mit der Einholung einer richterlichen Entscheidung einhergehenden Verzögerung besteht auch eine Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft und - nachrangig - ihrer Ermittlungspersonen (...). (7)

 

 
Grundlegend ist ein Machtwort des BVerfG gewesen: Der Angeklagte darf nicht nur Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (8). Das betrifft vor allem die Verfahrensgrundrechte ( Art 103 GG) und darunter das Recht auf rechtliches Gehör (9). Eine konkrete Ausgestaltung hat das "faire Verfahren" durch Art 6 Abs. 3 MRK bekommen, wobei die Konvention den Rang von Bundesrecht hat.

Problematisch sind vor allem Anordnungen der Staatsanwaltschaft oder der Polizei bei Gefahr im Verzug, wenn damit ein gesetzlicher Richtervorbehalt unterlaufen werden kann. Selbst wegen der Blutprobenentnahme, die keinen erheblichen Eingriff in Grundrechte zur Folge hat, verlangt das BVerfG, dass auch zur Nachtzeit zunächst versucht werden muss, einen Richter zu erreichen, und wenn der nicht zur Verfügung steht, einen Staatsanwalt (7).

Ausdrückliche Verwertungsbeschränkungen enthalten § 160a StPO wegen Ermittlungsmaßnahmen gegen Berufshelfer und § 161 Abs. 2, Abs. 3 StPO wegen Erkenntnisse aus anderen Verfahrensordnungen und aufgrund einer polizeilichen Eigensicherung (10). Dessen ungeachtet können Konflikte auch dadurch entstehen, dass in einer Entscheidungssituation auf die Vorschriften der falschen Verfahrensordnung zurück gegriffen wird, weil bei einer "Gemengelage", in der zum Beispiel polizei- und strafverfahrensrechtliche Eingriffbefugnisse nebeneinander bestehen, der Vorrang des Strafverfahrensrechts missachtet wird (11).
 

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BGH und BVerfG heben die Rolle der Staatsanwaltschaft gegenüber der Polizei hervor und geben ihr die Gesamtverantwortung für ein rechtmäßiges Ermittlungsverfahren. Dadurch wird die Staatsanwaltschaft auch in die Pflicht genommen, das Ermittlungsverfahren mit Fachkunde zu begleiten und dafür zu sorgen, dass gravierende Verfahrensfehler unterbleiben oder behoben werden. Das verlangt auch vom Einzelnen nicht nur Selbstbewusstsein, sondern ein breites fachliches Wissen.

Dagegen ist nichts einzuwenden.
 

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(1) BGH, Beschluss vom 27.05.2009 - 1 StR 99/09, Rn 13

(2) BGH, Beschluss vom 23.08.2011 - 1 StR 153/11, Rn 18

(3) BGH, Beschluss vom 18.05.2010 – 5 StR 51/10, Rn 16

(4) Schwellengleichheit und Verwertungsverbot, 03.04.2011;
BGH, Beschluss vom 18.01.2011 – 1 StR 663/10, Rn 22

(5) BVerfG, Beschluss vom 24.02.2011 - 2 BvR 1596/10, 2346/10, Rn 10 (Richtervorbehalt wegen Blutprobenentnahme)

(6) BVerfG, Beschluss vom 15.10.2009 - 2 BvR 2438/08, Rn 7

(7) BVerfG, Beschluss vom 11.06.2010 - 2 BvR 1046/08, Rn 26

(8) Ungesicherte Quelle: BVerfGE 26, 66.

(9) BVerfG, Beschluss vom 17.05.1983 - 2 BvR 731/80 (Dolmetscher)

(10) zulässige Verwertung verdeckter Zufallserkenntnisse, 28.02.2009

(11) Vorrang der StPO, 21.12.2008
 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018